Warum Trauern?
Trauer ist kein beliebtes Gefühl. Zumindest war es das lange bei mir nicht. Inzwischen ist das ganz anders. Wieso? Das will ich dir erzählen:
Mit Trauer meine ich nicht ein wenig melancholische Traurigkeit, sondern so richtige fette, dicke, tiefe Trauer.
Mein Leben lang war ich diejenige, bei der auch bei den geringsten Anlässen die Tränen kullerten. Heulsuse, hieß es da oft – in der Schule und Zuhause. Stell dich nicht so an, ist schon nicht so schlimm.
Tatsächlich war es für mich immer schlimm. Ich kann mich an kein Weinen erinnern, welches sich nicht schlimm anfühlte. Deshalb weinte ich ja, oder nicht? Weil es schlimm war. Um es zu würdigen und zu verarbeiten.
Im Rückblick wird mir bewusst, dass ich als Kind, Jugendliche und auch als Erwachsene selten weinte um etwas, was ich frisch verloren hatte. Das kam auch vor. Viel öfter aber weinte ich, weil es da dieses Loch gab. Etwas in meinem Leben nicht da war, was eigentlich hätte da sein sollen. Was ich gebraucht hätte. Ich weinte um Dinge, die ich nicht gehabt hatte und somit auch verloren hatte. Ich weinte auch aufgrund einen Verlustes, den ich damals jedoch nicht benennen konnte.
Dazu gehören der Schmerz um den Zustand der Welt, unsere moderne koloniale Art des Lebens (auch wenn ich diese Worte damals noch nicht kannte), die Kriege und Konflikte, um die fehlende Liebe in meiner von Krieg und Vertreibung geprägten Familie, um die fehlende Verbindung und gegenseitige Beziehung mit dem Land und den Pflanzen, Tieren, Wolken, Steinen und Winden, dazu gehörte auch der Schmerz um chronische Krankheit oder fehlende Gesundheit, um die fehlenden Rituale und die nicht vorhandene Kultur, die alles existierende als Leben wertschätzt…..
Ganz intuitiv hatte mein Körper sich das Weinen und Trauern als Verarbeitungsprozeß gesucht. Wie weise das ist, habe ich erst viel später verstanden.
Meistens schämte ich mich fürs Weinen, bekam ich doch gesagt, dass das nicht nötig, albern, sinnlos und blöd war. Erst viel später begann ich mich zu fragen, warum in unserer Kultur die Trauer so ungeliebt, wenn nicht gar verachtet wurde.
Warum fällt uns das so schwer?
Dazu ein kurzer Gedanken-Ausflug zu einer unserer kulturellen Wurzeln: Der erste Mischmasch von Menschen in Mitteleuropa entstand aus Gruppen, die aus der Gegend des fruchtbaren Halbmondes (Irak, Syrien, Palästina, Jordanien) kamen, später dann eingewanderten Indoeuropäern aus der osteuropäischen Steppe. Beide größeren Gruppen brachten ihre Kultur, ihre Gepflogenheiten, mit. Später kamen dann die Römer, einiges von der alten griechischen Kultur mitbrachten (und danach kamen noch viele andere…). Interessant ist, dass bis heute die Werte des antiken Griechenlands, der ersten „Hochkultur“ sich bei uns als bedeutsamen Werte gehalten haben, oft mehr als die der Indoeuropäer oder der ursprünglichen Einwanderer nach Mitteleuropa. Viele Geschichtsbücher bei uns fangen erst mit der Antike an, und heben damit den angeblichen „Ursprung“ unserer Kultur auf diese Weise hervor.
Die griechische Kultur war damals jedoch mitten im Übergang zwischen den eher matriachialen (matrilinear und matrilokal bzw. eigentlich egalitär) Kulturen der ersten Einwanderer und der Indoeuropäer und der patriachialen Kultur. Und das antike Griechenland hatte ein recht distanziertes Verhältnis mit dem Altern, dem Sterben und dem Tod. Vergänglichkeit und Verluste im Allgemeinen waren negativ und als unangenehm konnotiert, man wollte damit so wenig wie möglich zu tun haben (anders als bei den noch zyklischer lebenden Kulturen davor). Für die Griechen ging es um ewige Schönheit und ewige Jugend.
Wenn diese Kultur also unsere Kultur so maßgeblich beeinflusst hat (auf eine Weise, dass sie noch heute als unser kulturelle „Ursprung“ gilt), dann ist das eine Erklärung, warum es uns heute in Mitteleuropa so schwer fällt, uns mit Verlusten, dem Vergänglichen zu beschäftigen und zu trauern.
Gleichzeitig gibt es dankenswerter Weise auch in Europa Trauerkultur, die sich gehalten hat (siehe Klageweiber auf dem Balkan). Vermutlich ist es eine komplexe Sache, all die beteiligten Aspekte hier zu beschreiben, warum wir in Mitteleuropa den Umgang mit Verlusten und Trauer haben, wie er jetzt ist, und warum es zb auf dem Balkan in Phasen anders sein konnte.
Ein ganz wichtiger Aspekt ist, dass wir in Mitteleuropa innerhalb von zwei Generationen zwei Kriege erlebt und teilweise überlebt haben, deren Verluste und Grausamkeiten kaum in Worte zu fassen sind. Während und nach diesen Kriegen war es im wahrsten Sinne des Wortes überlebensnotwendig, nicht zu trauen, sondern alle Energie ins Überleben zu stecken. Wir Menschen sind in der Lage, Gefühle auszublenden, zu unterdrücken und das rettet in allen möglichen Situationen unser Leben, kann also richtig hilfreich sein.
Wie kann Trauern gehen?
Hält dieser Zustand jedoch länger an, unterdrücken wir Emotionen wie Trauer über einen längeren Zeitraum, kann das unser ganzes System abstumpfen lassen. Und die aufgestaute Trauer fühlt sich groß wie ein Gebirge ab, welches wir kaum abtragen können. Es kann ein Druck entstehen, gefühlt wie bei einem Kochtopf. Wir bekommen das Gefühl, ich darf auf keinen Fall den Deckel öffnen, sonst fliegt er mir um die Ohren. Es ist einfach zu groß für mich alleine.
Dieses Gefühl ist verständlich und es geht vielen so. Und die Trauerforschung sagt jedoch: wir können uns auf unseren so intelligenten Körper verlassen. Meistens nehmen sie sich nur das Maß vor, welches wir verdauen können. Denn Trauern geschieht in Wellen, sie kommen und gehen. Die Wellen rollen an, werden größer, „ergießen“ sich und ebben langsam wieder ab. Bis die nächste Welle komme. Und jede Welle trägt etwas von der angestauten Energie ab.
Und ein zweiter Aspekt, der so hilfreich sein kann, die Trauer ins fliessen zu bringen: Trauern in Gemeinschaft – auch wenn es unvorstellbar klingt für viele von uns. Was der Körper und die Seele beim Trauern erleben, ist ein „sich fallen lassen, ein Gehen lassen“. Das Schluchzen, Weinen, Schütteln, Schreien oder auch die ganz stillen Regungen sind ein äußerer Ausdruck von einer inneren Reise: wir besuchen unsere Schmerzpunkte, unsere Verluste, unsere Sehnsucht. Das tut weh. Wenn ich auf diese innere Reise gehe und mein Körper damit beschäftigt ist, diese Emotionen zu spüren, fliessen zu lassen, kann ich nicht wie sonst im Alltag darauf achten, was um mich herum geschieht. Ich brauche die Sicherheit, dass ich nicht allein damit bin, dass ich einen Moment lang ungestört bleibe.
Daher trauern viele Menschen in ihrem Zuhause, zum Beispiel in ihrem Bett. Die Rolle des Wächters, dass ich mich einen Moment lang sicherer fühle, kann jedoch auch ein anderer Mensch oder die Gemeinschaft übernehmen. Und die kann dann direkt einen dritten, so wichtigen Aspekt von Trauer beitragen: wenn die Tränen, das Schütteln, die stille Trauer dann abebben und ich das Gefühl habe, als würde ich zurückkommen von meiner inneren Reise, dann ist es wichtig, dass ich bezeugt und gesehen werde. Das müssen keine Worte sein. Oft ist es völlig ausreichend, wenn ein anderer Mensch nur durch seine Anwesenheit bezeugt, dass ich diese Reise angetreten habe und ein wenig verändert wieder gekommen bin. Das ist, also würde es bekräftigt werden. Und damit ein Stückchen wahrer und wirklicher werden, dass ich diesen Trauerschritt wirklich gegangen bin.
Und was ermöglicht uns die Trauer?
Tatsächlich ist Trauer inzwischen eines meiner lieberen Gefühle & Prozesse. Weil ich einen Umgang mit ihr gefunden habe. Einen Umgang für mich selber und auch einen Umgang, wie ich damit in Gemeinschaft sein kann. Trauerrituale, wie das Trauerfeuer von Circlewise, welches Elke Loepthien-Gerwerth entwickelt hat, ist einer der heilsamsten Räume, die ich in meinem Leben erfahren habe. Seitdem ich diesen Umgang mit Trauer kenne, weiß ich, dass nach dem Durchleben von Trauer auch wieder Lebensmut kommen kann. Und das ist nicht nur kognitives Wissen, sondern Erfahrung. Ich habe erfahren, dass mein Ohnmacht, Verzagtheit, Hoffnungslosigkeit sich verändern kann. Immer wieder, in kleinen Schritten. In Mut, mit dem präsent und da zu bleiben, was da ist. Auch mit dem Verlust, dem Schmerz, der Krise, dem Kollaps da zu bleiben. Am Leben zu bleiben, auch wenn vieles in mir oder um mich herum stirbt. Neuen Mut zu schöpfen für das Leben in mir und auf diesem Planeten – wie immer es in Zukunft aussehen wird.
Und heute ist leider so ein Tag, wo ich grade keine menschliche Gemeinschaft zur Verfügung habe zum Trauern. Und heute trauere ich tatsächlich im etwas, was ich hatte und verloren habe. Ein Mensch aus meiner Kindheit, die Nachbarin meines Elternhauses ist gestorben. Und gleichzeitig kann ich heute meiner Trauer um die aktuellen Kriege, die Situation in Gaza, Sudan, Kongo mehr Raum geben – und auch für den Rechtsruck in Deutschland und anderen Ländern Europas. Denn für mich braucht es momentan diesen Trauer-Moment, um anschließend Kraft und Mut für die so notwendige Aktivität zu haben.
Und daher ist Trauern lernen auch politisch. Große Teile der so gewichtigen gemeinschaftlichen Trauerkultur ist verloren gegangen, wie so vieles, in Europa und in vielen kolonisierten Ländern. Wollen wir uns ernsthaft mit Dekolonisierung beschäftigen und fragen wir uns, wie wir FÜR das Leben auf diesem Planeten wirken können, ist Trauerkultur ein bedeutsames Element.
Heute spendet die Schafgarbe mir Trost. Sie ist meine Lieblings-Unterstützer-Pflanze beim Trauern. Schon der Anblick ihrer Blüten erinnert mich an weiche Wolken, auf denen ich mich ausweinen kann. Und ihr Tee umhüllt mich wohlig und zärtlich mit Geruch und Geschmack, so dass ich mich aufgehoben und getragen fühle. Interessant, dass sie ausgerechnet nach dem griechischen Helden Achilles benannt ist, der sich intensiv mit der Unsterblichkeit beschäftigt hat, weil er durch das Bad im Fluss Styx, der die Unterwelt von der Oberwelt trennet, unsterblich geworden ist. Und doch ist auch Achilles gestorben, er wurde getroffen an seiner verwundbarsten Stelle, seiner Ferse. Und damit ist auch sein Körper in den Kreislaufs des Lebens weitergegangen, ist zerfallen, ist essbar geworden für die vielen Mikroorganismen im Boden und damit zu neuem Leben herangereift. Für die Entstehung von neuem Leben braucht es immer auch ein wenig Sterben. Was für ein Geschenk, dass wir Menschen trauern können!
Interessiert dich das Thema?
Dann kannst du hier bei Circlewise ein wenig mehr darüber lesen.
Hast du auch Verluste, aktuelle oder vergangene, persönliche oder kollektive, die du betrauern möchtest?
Dann komm zu unserem Trauerritual – Trauern in Gemeinschaft Ende Februar in der Gemeinschaft Sulzbrunn im Allgäu!