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Ich habe in letzter Zeit oft das Gefühl, als würde mein Nervensystem nicht hinterherkommen. Nachrichten über Klimakipppunkte, politische Radikalisierung, Kriege die ich alle nicht mehr aufzählen kann, das leise Erstarken von Autokratien und das laute Schwächeln demokratischer Prozesse. Und dann noch das Persönliche: Ein Körper, der manchmal nicht schlafen kann. Eine Traurigkeit, die sich nicht mehr genau zuordnen lässt. Eine Erschöpfung, die tiefer sitzt als der Alltag.

Polykrise – das klingt fast nach einem Marketingbegriff. Aber es ist das Wort, das aktuell am ehesten beschreibt, was so viele von uns spüren: Dass nicht nur eine Krise tobt, sondern viele gleichzeitig – und dass sie sich gegenseitig verstärken. Die Klimakrise, die Biodiversitätskrise, soziale Ungleichheit, psychische Überlastung, geopolitische Eskalation.

Manchmal denke ich, ich muss eine Antwort finden. Eine Haltung. Eine Strategie. Und manchmal glaube ich: Es gibt keine einfache Lösung. Und wer eine verspricht, bietet oft nur neue Ausgrenzung an – wie die rechten Bewegungen, die sich weltweit ausbreiten. Auch das ist eine Reaktion auf Überforderung: Kontrolle statt Komplexität. Abschottung statt Beziehung.
Was mir hilft? Mich nicht allein zu fühlen. Zu merken: Auch andere Menschen liegen nachts wach. Auch andere versuchen, zu lieben, zu arbeiten, zu trauern, zu kämpfen – inmitten all dessen. Und: Wieder in Beziehung zu gehen. Mit anderen Menschen, mit der Landschaft, mit mir selbst. Und das ist für mein Nervensystem oft das allerschwerste (aus meiner priveligierten Sicht in Deutschland).

Ich erinnere mich an einen Nachmittag im letzten Herbst. Ich saß mitten im Wingert, zwischen langen Reihen von Rebstöcken, dort wo ich in Rheinhessen lebe. Der Boden war grau und spröde, das Kraut dazwischen abgestorben – Insektizid, Herbizid, Fungizid, Pestizid. Und doch: über mir das Flirren von Grillen, das Kreisen von Mäusebussard, das Huschen einer Feldmaus. Und an den Reben: pralle, volle Trauben. Diese Pflanzen, deren Wurzeln sich mehrere Dutzend Meter in den Boden graben, Jahr für Jahr. Vielleicht fühlen sie sich auch ausgebeutet, angebunden – und leben trotzdem noch. Es war einer dieser stillen Momente, in denen ich meinen Körper wieder gespürt habe. Wie ich da saß, am Rande des Systems und doch mittendrin. Und ich dachte: Ich bin nicht nur Beobachterin. Ich bin Mitbeteiligte. Ich bin auch eine Wurzel. In mir ist auch vieles zerbrochen. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Ich bin auch ein Stück erschöpfte Erde. Auch ein lebendiger Organismus.

Die Psychologin Britt Wray hat in ihrem Buch Generation Dread beschrieben, wie stark Klimagefühle unser Leben prägen – Angst, Schuld, Ohnmacht, aber auch Wut und Trauer. Sie nennt das „eco-anxiety“, ein Begriff, der längst auch in medizinischen Fachartikeln angekommen ist. Wray beschreibt, wie viele Menschen diese Emotionen wegdrücken, um irgendwie zu funktionieren. Doch das hat einen Preis: Erstarrung, Isolation, inneres Absterben. In ihrem Newsletter und Buch betont sie, dass es nicht darum geht, sich zu beruhigen – sondern die Gefühle zu integrieren. Das bedeutet, sie im Körper zu spüren, sie als Teil des Lebendigseins zu akzeptieren und sie in Beziehung zu bringen. Sie schreibt: „We don’t need to move past our grief. We need to move with it.“

Ja, das Trauern…. Für mich ist Trauern nicht etwas, was ich erledigen und schaffen muss (und manchmal ist das immer noch da). Trauern hat so unendlich viele Facetten. Ich bin so froh und dankbar, dass ich für das, was ich mein Leben lang fühlte, immer wieder da war, nun seit einigen Jahren einen Umgang lerne, der sich lebensförderlicher anfühlt. Trauerprozesse in meinem Alltag zuzulassen, und damit nach dem Trauern wieder mehr Erleichterung, Lebensfreud und Lebensmut zu spüren, habe ich erst durch den Besuch eines größeren gemeinschaftlichen Trauerrituals gelernt.

Trauern schafft Verbindung – zu dem, was wir verloren haben, und zu dem, was uns bleibt. Wir können tief in uns drinen die Beziehung zu dem Verlorenen umgestalten und damit unser Leben neu sortieren. Beim Trauern wird nichts repariert und auch nicht noch schlimmer gemacht, als es eh schon ist. Sondern es wird geliebt, gelacht, geweint, geatmet, gehalten, geschüttelt, gezittert, still getrauert. Und irgendwo dazwischen kann sich manchmal, ganz langsam, etwas verwandeln.

Ich habe gelernt, dass Trauer nicht linear ist. Und nicht immer laut. Manchmal ist sie eine Stille, die mich morgens umfängt. Oder ein Zittern in den Händen. Oder das Bedürfnis, mich zurückzuziehen. Manchmal denke ich immer noch: ich muss schnell wieder „funktionieren“. Manchmal ist mir bewusst: Wenn ich meiner Trauer Raum gebe, kann ich wieder in Beziehung treten – zu mir selbst, zu anderen, zur Welt.

Was heißt das praktisch? Für mich: Dass ich wieder lernen kann, zu fühlen. Und das geht nicht im Kopf. Es beginnt im Körper. Wenn ich barfuß laufe. Wenn ich meinen Atem spüre. Wenn ich weine, ohne Grund. Wenn ich mich in eine Decke wickeln und zurückziehen will wie ein verletztes Tier. Wenn ich merke: Ich bin nicht falsch, weil ich traurig bin. Ich bin nicht krank, weil ich Angst habe. Ich bin lebendig.

Die Resilienzforschung zeigt, dass unsere Fähigkeit, mit Krisen umzugehen, nicht nur von innerer Stärke, sondern vor allem von sozialer Einbettung abhängt. In Studien wie von Michael Ungar oder Stephen Porges wird deutlich: Sicherheit entsteht nicht primär durch Kontrolle, sondern durch Beziehung. Durch Co-Regulation. Durch das Gefühl, gesehen zu werden – auch von einem Baum. Auch von einem Tier. Auch von etwas, das größer ist als ich.
Deshalb glaube ich, dass Gemeinschaft mehr ist als ein soziales Konzept. Es ist eine körperliche Erfahrung. Es ist ein Nervensystem, das sich beruhigt, weil ein anderes Nervensystem da ist. Auch wenn es das einer Blaumeise ist. Und dass Trauern nichts Schwaches ist, sondern ein Akt der Verbundenheit. Ein Mut, zu fühlen, wo ich bislang abstumpfte. Ein Ja zur Lebendigkeit – selbst mitten im Verlust.

Denn in unserer privilegierten Welt, in der wir momentan keine Hungersnot, keinen Krieg, keine Naturkatastrophe, wenig Unterdrückung und Ausbeutung erfahren, spüren wir nicht diese entsetzlichen Dinge an unserem eigenen Körper. Aber diese Dinge existieren in der Welt. Das wissen wir. Wir können unsere Augen und Herzen nicht verschließen. Den Schmerz zuzulassen ist meiner Meinung ein essentieller Schritt, um von da auch wieder aktiv werden zu können. Für die, die grade keine Stimme haben oder nicht gehört werden. Und für die, die nach uns kommen, für eine lebenswerte Zukunft – auch lange nach uns.

Ich glaube, wir brauchen keine perfekten Antworten. Und auch nicht nur einen einzigen Weg. Wir brauchen viele Wege. Für manche ist Trauer ein hilfreicher Zugang. Für andere ist es das Engagement in der lokalen Gemeinschaft. Oder das Erlernen von Nervensystemregulation. Eine spirituelle Praxis kann Halt geben. Oder der regelmäßige Gang in den Wald. Oder Therapie. Oder das Wiederfinden von Körperempfinden. Oder das bewusste Entwickeln von Selbstmitgefühl. Oder das Erleben von Sinn im Tun. Oder das Gespräch mit einer alten Eiche.

Es gibt viele Wege, wieder in Beziehung zu kommen – mit uns selbst, mit anderen, mit der mehr-als-menschlichen Welt. Wir brauchen sie alle, nebeneinander, hintereinander miteinander.

Ich glaube, wir brauchen keine perfekten Antworten. Sondern gelebte Fragen. Und Räume, in denen wir diese gemeinsam halten können.

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