Mit dem Leben tanzen – Wahrnehmung, Neurodivergenz, Moderne und das Erbe des Getrenntseins
Ich frag mich oft, was Wahrnehmung eigentlich ist. Sie ist zumindest kein neutraler Akt. Menschliche Wahrnehmung ist ein gewebtes Netz aus Biologie, Kultur und Geschichte, ein Ausdruck dessen, wie wir uns als Lebewesen in der Welt verorten. Teil meiner ersten Begegnung mit der Frage der Wahrnehmung kam mit meinen buddhistischen Studien vor vielen Jahren. Heute 25 Jahre später frage ich mich, lebe ich in einem Zeitalter, das geprägt ist von den bröckeligen Gebäuden der Moderne und dem Echo kolonialer Denkmuster. Was ist Wahrnehmung in dieser Zeit und was entgeht mir dabei?
Neurodivergenz und das Spektrum der Wahrnehmung
Die Idee der „Normalität“ hat tiefe Spuren in unserer Wahrnehmung, unserem Fühlen, Denken und Sein hinterlassen. Neurotypikalität – jene Art zu denken, fühlen und handeln, die als „Standard“ gilt – wird oft als Maßstab genutzt, um Abweichungen zu pathologisieren. Seit einigen Jahren gibt es den Begriff der „Neurodiversität“ – die Idee dass alle Menschen unterschiedlich wahrnehmen, denken und fühlen. Wirklich alle, alle. Innerhalb der Neurodiversität wird dann noch unterschieden zwischen „neurotypischen“ (die die „normaler wahrnehmen) und „neurodivergenten“ Menschen. Dann heisst es, neurodivergente Menschen haben oft Zugänge zu Formen der Wahrnehmung, die neurotypischen Menschen verschlossen bleiben. Dies ist nicht nur eine Herausforderung für die Betroffenen in einer Welt, die nicht für sie gestaltet wurde. Es ist auch eine Einladung an die Gesellschaft, ihre starren Kategorien von Sinn und Bedeutung zu überdenken. Es heisst auch, dass Neurodivergenz keine Abweichung von einer normativen Linie ist, sondern Ausdruck der Vielfalt, die in jedem Ökosystem essenziell ist.
Soweit kann ich mitgehen. Ich frage mich aber, ob es wirklich ernsthaft „neurotypische“ Gehirne und Menschen geben kann? Sind wir nicht alle total unterschiedlich? Ja, es gibt sicherlich autistische Menschen, hochsensible Menschen, ADHS-Menschen etc. Und vermutlich hat nicht jeder Mensch diese Art von Neurodivergenz. Aber entspricht es nicht dem Grundprinzip von „Natur“, dass jedes Lebewesen ein einzigartiges Ökosystem ist? Dass es zwar die „Eiche“ gibt, wie es die „Menschen gibt“, aber jede Eiche so individuell einzigartig ist, anders gebaut, geformt, gewachsen etc ist?
Woher kommt diese seltsame Idee, es gäbe eine „Normalität“? Aus meiner Sicht tritt sie oft kulturell auf. Was heißt daS? Vielleicht kann eine Sichtweise sein, dass es aus der Notwendigkeit entstanden ist, wenn verschiedene Aspekte z.B. viele Menschen, Herrschafts- bzw. Machtverhältnisse und wenig Zeit zusammen kommen.
Moderne, Trennung und das Erbe des Kolonialismus
Unser Wahrnehmen ist nicht nur biologisch geprägt, sondern auch kulturell durchdrungen. Die Moderne mit ihrem Fokus auf Trennung, Individualisierung und Objektivierung hat ein Weltbild geschaffen, das den Menschen vom Rest der Natur abhebt. Andreas Weber spricht oft über den „Entzug von Beziehungsfähigkeit“ (siehe die Buchempfehlung aus dem letzten Newsletter). Indem wir die Welt als etwas Äußeres, von uns getrenntes wahrnehmen, vielleicht sogar als Ressource, die wir kontrollieren, benutzen können, verlieren wir die Fähigkeit, uns als Teil eines lebendigen Netzwerks zu erfahren.
Koloniale Denkmuster verstärken diese Trennung. Sie haben nicht nur das Land, die Landschaft, die menschlichen Bewohner*innen, die nicht-menschlichen Bewohner*innen und Ressourcen kolonisiert, sondern auch die Vorstellung davon, was „Wissen“ ist und wie es vermittelt wird. Wie „Leben“, „Kultur“ oder „Landwirtschaft“ geht. Die Art, wie wir heute wahrnehmen – oft in binären, linearen Kategorien – ist ein fortdauerndes Erbe dieser jahrhundertealten Denkweisen.
Die Trennung, die wir erleben, ist nicht nur intellektuell oder kulturell. Sie hinterlässt Spuren in unseren Seelen und spannenderweise auch in unseren Körpern. Sie formt unsere Körper, Sinne und Wahrnehmung subtil und oft unbewusst. Da Wahrnehmung ein komplexer Prozess aus physischen Sinneseindrücken, physiologischer Verarbeitung und soziokultureller Prägung ist, macht es keinen Sinn, Wahrnehmung als etwas Statisches zu sehen, sondern stattdessen als dynamischen Prozess, der uns zugleich individuell und kollektiv formt.
Eine Einladung zum Anders-Wahrnehmen
Für mich ist nicht die Frage ist nicht, wie wir zur „richtigen“ Wahrnehmung zurückfinden können. Sondern es geht darum, die Begrenzungen, Gewohnheiten und Muster unserer Wahrnehmung zu erkennen. Sie zu weiten, das unsichtbare, undenkbar, unfühlbare, unliebbare ausserhalb der gewohnten Grenzen zu erahnen. Das was ich wahrnehme auf den Kopf zu stellen, vll aus „Normalität“ dann „“Besonderheit“ zu machen und Umgekehrt. Leben ist immer Beziehung, ein ständiger Dialog. Wahrnehmung ist Beziehung. Wahrzunehmen bedeutet, sich berühren zu lassen, in Resonanz zu treten mit dem, was größer ist als wir.
Und das ist jetzt dringend nötig. Mein Lieblingssatz von Bayo Akomolafe lautet „times are urgent, lets slow down“. Es ist klar, dass es so nicht weiter gehen wird. Es wird sich viel verändern in den nächsten Jahren. Es geht nicht darum, die Welt zu reparieren oder heile zu machen. Es geht darum, mit all der großen Veränderung zu gehen. Die alten Konstrukte, des Kapitalismus, der Moderne, des Patriacharts, beim Sterben zu begleiten. Zu trauern. Und im Zusammenbrechen der alten Konstrukte die Risse und Ritzen zu erspüren. Denn in diesen Rissen und Ritzen der alten Konstrukte webt sich leise und zart und vielleicht auch laut und gewaltig neues Leben. Leben mit dem wir in Beziehung sein können. Weil wir selber Leben sind. Ökosysteme. Jede und jeder einzelne von uns. Jenseits aller Normalität, Neurotypikalität und Gewohnheit.
Wie wäre es, wenn wir die Welt nicht mehr nur als etwas wahrnehmen, das wir verstehen müssen, sondern als etwas, das uns einlädt zu fühlen, zu lauschen, zu tanzen? Mit dem was da ist, was stirbt und was kommt.
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